9 Einleitung

Gerhard Schaefer

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DOI

10.34663/9783945561188-12

Citation

Schaefer, Gerhard (2011). Einleitung. In: Herausforderung Energie: Ausgewählte Vorträge der 126. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e.V. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

In einer Zeit weltweiter Wirtschafts- und Finanzkrisen steht im Mittelpunkt der politischen Diskussion meistens nur noch das Geld; jedoch, wenn wir genauer hinsehen, parallel zum Geld auch immer wieder der Wirtschaftsfaktor Energie. Geld- und Energieströme sind in der menschlichen Gesellschaft eng aneinander gekoppelt. Beide, Geld und Energie, sind ökonomisch nicht nur äquivalent, sondern in gewisser Weise auch omnipotent, das heißt: mit ihnen kann man, so scheint es, alles machen, alles kaufen, potentiell jedes Ziel erreichen. Sie sind dienstbare Magd für jegliche Art menschlicher Bedürfnisse. Energie hat ja auch keine Richtung, ist kein Vektor, sondern ein Skalar.

Kein Wunder, dass es in der Welt nicht nur einen allgemeinen Geldhunger gibt, sondern auch einen ausgesprochenen Energie-Hunger.

Wenn wir aber unsere Mitmenschen im Alltag befragen, selbst solche höheren Bildungsstandes, so stellen wir fest, dass viele nicht über einen physikalisch zutreffenden, sondern nur über einen sehr verschwommenen Begriff von Energie verfügen. Er bewegt sich in einem assoziativen Umfeld von Kraft, Wucht, Schwung, Druck, Arbeit, Leistung, Wärme, Bewegung, Ausdauer, etwas Bleibendes, Konstantes, Depot bis hin zu Entscheidung, bestimmte Richtung, Zielstrebigkeit oder gar innerer Antrieb des Menschen. Dieses Verständnis von Energie in der Bevöl- kerung entspricht etwa dem Begriffsstand der Physik vor 200 Jahren. Illustriert wird das beispielhaft im Kapitel 11 durch Aneinanderreihung von Zitaten aus verschiedenen Kulturbereichen.

Viele Schüler betrachten Energie etwa, wie Duit schon 1979 zeigte, als Industrieprodukt, das uns das Leben schöner und bequemer macht, also als eine Art Luxusartikel, auf den man zur Not auch verzichten kann, und nicht, vor allem in chemischer Form, als unverzichtbare Grundlage des Lebens selbst.

Trotz der seit über 150 Jahren vollzogenen Trennung der Begriffe Energie und Kraft durch die Physik und trotz des unablässigen Bemühens der Physiklehrer in Schulen, diese Unterscheidung für die Lernenden einsehbar zu machen, werden beide Begriffe in Alltagsvorstellungen immer noch gleichgesetzt. So äußerte eine 15-jährige Gymnasialschülerin kürzlich wieder in einem Test: „Kraft ist fast wie Energie – beides kann etwas verändern“. Ebenso benutzt der Volksmund immer noch Wörter wie Kraftwerk (obwohl dieses keine Kraft liefert, sondern Energie) und Kraftstoff (der ebenfalls keine Kraft enthält, sondern Energie).

Im SPIEGEL Special 2007 Neue Energien – Wege aus der Klimakatastrophe werden die drei großen Bereiche erneuerbarer Energien mit Windkraft, Fotovoltaik und Biomasse gekennzeichnet, also mit den Oberbegriffen Kraft, Voltaik und Masse. Die hier benutzten Oberbegriffe sind physikalisch falsch und passen nur assoziativ zu dem Gesagten. Das stört aber den Leser nicht, da er ja ohnehin meistens nur assoziativ liest!

Wir sehen: Das Wort Energie ist zwar in aller Munde, bleibt aber bei den meisten Mitbürgern unverstanden, vieldeutig, vage, und es wird vielleicht in breiten Kreisen der Gesellschaft gerade deshalb, wegen dieser Vieldeutigkeit, so sehr geschätzt, − kann man doch dann damit machen, was einem gerade einfällt, und muss sich nicht um Genauigkeit kümmern!

Selbst innerhalb der Physik gab es ja lange Zeit (18./19.Jahrhundert) Meinungsverschiedenheiten darüber, ob der Begriff Energie überhaupt Gegenstand der Physik sein könne, da er doch ein metaphysischer Begriff sei. Das lag nicht zuletzt an einem allgemeineren, die Physik übersteigenden und sie methodisch doch zentral berührenden Problem, nämlich: ob eine wissenschaftliche Beschreibung von Energie immer automatisch naturwissenschaftlich heißen müsse − im Sinne von objektiv feststellend und messend. Darüber hinaus ging es dann auch noch um die philosophisch-psychologische Frage, ob Physik den Energiebegriff nur erklären müsse oder ob nicht auch noch ein psychologisches Verstehen gefragt sei (eine Unterscheidung von Jaspers 1913 ; siehe Beitrag v. Engelhardt).

Das berührt dann sogleich die Frage, welche Art des Verstehens denn gemeint sei: nur das rationale (kalkülisierende) Verstehen – Domäne der Naturwissenschaf- ten – oder auch das empathische (nach- bzw. einfühlende) Verstehen, das überwiegend in den Geisteswissenschaften zu Hause ist. Dies ist ein generelles Wissenschaftsproblem. Es tritt beim Energiebegriff in besonderer Schärfe auf, begegnet uns aber auch bei vielen anderen Phänomenen, die Gegenstand der Naturwissenschaften geworden sind, z.B. Kraft, Arbeit, Zeit, Leben, Ordnung, Information bis hin zu Geist (Thema der Neurowissenschaften).

Das Wort Energie bezeichnet offenbar ein geheimnisvolles Phänomen der Natur, das in allen Dingen eine Rolle spielt, die Welt am Laufen hält, das wir aber begrifflich nicht so recht fassen können, da es uns immer in irgendeiner konkreten Energieform begegnet: als Licht-, Wärme-, mechanische, elektrische, chemische Energie usw., aber nie als Energie als solche. Und was das Merkwürdigste ist: Die Energieformen sind alle ineinander umwandelbar; dabei gibt es feste Umrechnungsfaktoren, und bei der Umwandlung geht nichts verloren.

Was heißt das aber? Es heißt: Die Summe aller Energieformen in einem abgeschlossenen System ist – nach Umrechnung in eine einzige Maßeinheit, sonst könnte man ja keine Summe bilden! – konstant. Mit anderen Worten: Energie (als Ganzes) geht nicht verloren und entsteht auch nicht neu, obwohl die Energieformen innerhalb des Systems immerzu verloren gehen und neu entstehen.