10 Verschiedene Sprachkulturen rund um Energie

Gerhard Schaefer

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DOI

10.34663/9783945561188-13

Citation

Schaefer, Gerhard (2011). Verschiedene Sprachkulturen rund um Energie. In: Herausforderung Energie: Ausgewählte Vorträge der 126. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e.V. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Was also ist dann diese merkwürdige „Bilanzierungsgröße“ (so wie sie heute genannt wird), die hinter den konkreten Erscheinungsformen unveränderlich existiert und die wir sinnlich nicht fassen, nicht „vorstellen“ können, − so dass selbst der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman einmal eingestand, es sei wichtig einzusehen, dass die heutige Physik „nicht wisse, was Energie ist“? (Hierzu nimmt G. Berg unten genauer Stellung).

Wenn diese Skepsis schon innerhalb der Physik besteht, wie viel mehr dann außerhalb im täglichen Leben! Anhand der nachfolgenden Zitate (Kapitel 11) wird deutlich, wie Nicht-Physiker unserer heutigen Zeit wie Schriftsteller, Musiker, Psychologen, Physiotherapeuten, ZEN-Meister usw. mit dem Wort Energie umgehen. Es wird dann deutlich, dass wir mitten unter uns, parallel nebeneinander, verschiedene Sprachkulturen haben, von denen die naturwissenschaftliche – hier: die physikalische – nur eine unter vielen ist. In all diesen Sprachkulturen tritt das Wort Energie auf, aber in jeweils verschiedener Bedeutung. Das breite Spektrum dieses schillernden Begriffes ist in Abbildung 10.1 in Grundzügen angedeutet.

Dabei ist zur physikalischen Sprach-Variante noch zu bemerken, dass diese in unseren Schulen u.a. auch deshalb Probleme bereitet, weil sie mit einer Ersatzgröße bzw. reinen Rechengröße arbeitet. Diese ist sinnlich nicht erfahrbar (wir haben keine Sinneszellen für Energie!), sondern als mentales Konstrukt nur denkbar. Solche Größen sind in Abbildung 10.1 mit M bezeichnet.

Die physiologisch erfahrbaren (durch spezielle Sinneszellen wahrnehmbaren) Größen sind in der Abbildung mit P, die nur seelisch/subjektiv erlebbaren mit S bezeichnet.

Links im Schema sind naturwissenschaftlich präzisierte Größen untergebracht, rechts einige nicht präzisierte Begriffe des Alltags, die auch in den Geisteswissenschaften eine Rolle spielen. Die mit P+S gekennzeichneten Größen gehören wegen des P eigentlich auch in den Objektbereich der Naturwissenschaften, sind aber wegen noch mangelnder Präzision (Wachstum, Entwicklung, Gesundheit) oder wegen ihrer überwiegend psychologischen Konnotation (z.B. Power) mit auf die rechte Seite gesetzt worden.

Fig. 10.1: Der Energiebegriff im Spannungsfeld von Natur- und Geisteswissenschaften P = physiologische Quelle: direkte Wahrnehmung über spezielle Sinneszellen M = mentales Konstrukt; Ersatz- bzw. Rechengröße für eine sinnlich nicht wahrnehmbare Größe S = rein seelisch-subjektive Erfahrung: Gefühls- und Phantasiewelt.

Fig. 10.1: Der Energiebegriff im Spannungsfeld von Natur- und Geisteswissenschaften P = physiologische Quelle: direkte Wahrnehmung über spezielle Sinneszellen M = mentales Konstrukt; Ersatz- bzw. Rechengröße für eine sinnlich nicht wahrnehmbare Größe S = rein seelisch-subjektive Erfahrung: Gefühls- und Phantasiewelt.

Die hier dargestellte Vielfältigkeit der Wortbedeutungen von Energie hat ihre Wurzel natürlich auch in der Geschichte des Wortes, seiner Etymologie. Die indoeuropäische Wurzel *uer- bedeutete vor etwa 5000 Jahren soviel wie drehen, wenden, flechten. Aus ihr haben sich ein griechischer Wortstamm um uergonergonen-érgeia, ein lateinischer um vertere und ein germanischer Stamm um Wurm, Werk, wehren gebildet und vielfältig verzweigt (Abbildung 10.2).

In vielen Äußerungen von Mitbürgern erscheint ja Energie auch heute noch als ein Etwas, das in dieser Welt „Dinge von innen heraus dreht und wendet, bewegt und gestaltet“. Das kommt in vielen Zitaten immer wieder zum Ausdruck (siehe Kapitel 11). Physikalisch erscheint diese Sichtweise auch in der in vielen Schulbüchern benutzten Definition „Energie ist gespeicherte Arbeit“, − also so etwas wie Innen-Arbeit.

Das Problem bei dieser Definition ist allerdings, dass hier Energie unter einen Oberbegriff Arbeit gestellt wird, der nur eine mechanische Erscheinungsform von Energie ist und Energie in ihrer ganzen Weite gar nicht erfasst. Die Definition ist physikalisch irreführend, logisch sogar falsch, da sie einen Oberbegriff (Energie) unter seinen eigenen Unterbegriff (Arbeit) subsumiert. Kein Wunder, dass dann bei Befragung von Mitbürgern immer wieder das Gleiche herauskommt: sie können nicht klar ausdrücken, was Energie ist, und werfen Energie, Arbeit und Kraft ständig durcheinander. Das Wort bleibt für sie bedeutungsoffen, um nicht zu sagen: bedeutungsleer.

Die etymologische Betrachtung in Abbildung 10.2 liefert eine historische Begründung für die ungeheure Bedeutungsvielfalt des Wortes: Energie ist zum Beispiel sprachverwandt mit Werk (engl. work = Arbeit), mit Organ (= Werkzeug) und sogar mit Wahrheit (das Eigentliche, das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“). Das Wort hat über Jahrtausende hinweg seine große Bedeutungsbreite beibehalten, so wie sie noch in Abbildung 10.1 zum Ausdruck kommt.

Fig. 10.2: Etymologie zu Energie (Aus DUDEN 1997 und Kluge 1989)

Fig. 10.2: Etymologie zu Energie (Aus DUDEN 1997 und Kluge 1989)

Wie geheimnisvoll und bedeutungsoffen der Energiebegriff selbst in der Physik lange Zeit blieb, ist daran zu erkennen, dass er hier – als messbare Größe – erst Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde (1851 W. Thomson, 1853 W. M. Rankine), als er seine Vorstufe, den bis dahin für diese Erhaltungsgröße benutzten Ausdruck vis viva (= lebendige Kraft) ablöste. Es scheint, als ob viele heutige Mitbürger – trotz intensiven Physikunterrichts in den Schulen – insgeheim auf der Stufe einer vis viva stehen geblieben sind.

Was wir in dieser Situation einer um den Energiebegriff herum bestehenden babylonischen Sprachverwirrung brauchen, und wozu Schule unsere Jugendlichen befähigen sollte: „Dolmetscher“ zwischen den verschiedenen Sprachkulturen zu sein; Dolmetscher, die helfen können, dass wir uns bei der Vielzahl der Energiebegriffe überhaupt noch verstehen. Dazu gehört, dass Jugendliche schon in der Schule die verschiedenen Sprachkulturen – natürlich auch die physikalische – kennen und richtig gebrauchen lernen, so wie ja ein Dolmetscher die Sprachen, die er übersetzen will, auch so weit wie möglich beherrschen muss.