Y Ypern

Florian Schmaltz

Download Chapter

DOI

10.34663/9783945561126-26

Citation

Schmaltz, Florian (2016). Y Ypern. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Ypern, der Name der belgischen Kleinstadt Westflanderns, steht seit dem Ersten Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis als Erinnerungsort für den weltweit ersten Großeinsatz chemischer Massenvernichtungsmittel durch das deutsche Heer am 22. April 1915. Das Militär des deutschen Kaiserreichs war am 5. August 1914 in das neutrale Belgien einmarschiert, doch hatten französische und britische Truppen die deutsche Offensive in der Marne-Schlacht vom 5. bis 12. September zum Stillstand gebracht. Ypern gehörte zu den Städten entlang des nord-südlichen Frontverlaufs, welche in der verlustreichen ersten Flandern-Schlacht vom 20. Oktober bis 18. November 1914 durch die alliierten Truppen gehalten werden konnten.

Einige Wochen nach Kriegsbeginn, als der Frontverlauf im Westen in einem Stellungskrieg festgefahren war, hatte der in der Operationsabteilung der Obersten Heeresleitung für schwere Artillerie, Minenwerfer Festungen und Munition verantwortliche Major Max Bauer dem Chef des Generalstabschefs Erich von Falkenhayn in der zweiten Septemberhälfte 1914 vorgeschlagen, den Einsatz chemischer Waffen für den Grabenkrieg zu erproben. Zunächst wurden Geschossbeimischungen getestet, die stark wirkende Reizgasfüllungen enthielten. Die von Carl Duisberg und Walter Nernst entwickelten Geschosse mit Dianisidsalz sollten Atemwegreizungen hervorrufen und die gegnerischen Soldaten kampfunfähig machen. Die Ende September 1914 an der Westfront eingesetzten Gasgranaten erwiesen sich als wirkungslos. Auch die später von dem Chemiker Hans Tappen entwickelten Geschosse mit flüssigen Augenreizstoffen zeigten keine durchschlagende Wirkung. Nachdem diese Versuche gescheitert waren, schlug der als Sachverständiger zu den Erprobungen auf dem Schießplatz Kummersdorf im Dezember 1914 hinzugezogene Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie, Fritz Haber, den Einsatz von großen Mengen Chlorgas als Kampfmittel vor. Der überraschende Einsatz der neuen Gaswaffe sollte wieder Bewegung den festgefahrenen Stellungskrieg bringen.

Bereits in geringer Konzentration ruft Chlorgas schwere äußere Verletzungen der Haut und der Lunge hervor, weil es sich beim Kontakt mit Schleimhäuten zu Salzsäure verbindet. Im Nasen- und Rachenraum und in der Lunge werden infolgedessen schwere Verätzungen verursacht, wodurch Blutplasma aus den Blutgefäßen in die Lunge eindringt. Bluthusten, Atemnot und qualvolle Erstickungserscheinungen sind die Folge. Behandlungsmöglichkeiten bestehen wegen der Unzugänglichkeit der Lunge praktisch nicht (Gradmann 1996, 140). Nach einem Testlauf auf dem Schießplatz Wahn bei Köln zeigte sich der Generalstab dann Mitte Januar 1915 mit Habers Vorschlag einverstanden. Haber hatte zunächst geplant, Chlor mittels zahlreicher Granatwerfer auszubringen, was sich aufgrund der Munitionsversorgungskrise des deutschen Militärs als unmöglich erwies: Deshalb orientierte er trotz der damit verbundenen Risiken auf das Chlor-Blasverfahren aus Stahlflaschen um, das in Ypern erstmals zum Einsatz kam (Szöllösi-Janze 1998, 322 f.).

Abb. 1: Leitungslegen am Gaswerfer, ca. 1915. (Quelle: Henrici 1931, 564)

Abb. 1: Leitungslegen am Gaswerfer, ca. 1915. (Quelle: Henrici 1931, 564)

Nach ersten Versuchen im Januar 1915 überwachte Fritz Haber als chemisch-technischer Berater des Militärs seit Februar 1915 den Einbau der Gaszylinder an der Front bei Ypern. Die Vorbereitung des Blasangriffs war mit einem hohen logistischen Aufwand verbunden. Bei dem tonnenweise von der chemischen Industrie in Deutschland produzierten Chlorgas handelte es sich um eine gefährliche Fracht, die mit der Eisenbahn zu einem frontnahen Munitionsdepot in Cotremarck transportiert werden musste. Dort wurde das Chlorgas in Stahlflaschen abgefüllt und mit Kleinbahnen zu Ablageplätzen geliefert. Anschließend bauten Soldaten die Flaschen in die Brüstungen der Schützengräben ein und beschwerten sie mit Sandsäcken (Lummitzsch 1955, 3; Hanslian 1934, 13 f.). Die vorangegangenen Versuche mit Chlorgas auf dem Truppenübungsplatz Kummersdorf hatten den beteiligten Chemikern und Militärs deutlich gemacht, dass ein Fronteinsatz mit hohen Risiken auch für die eigenen Truppen verbunden war. Schon beim Einbau der Gaszylinder kam es zu Unfällen, weil die Zylinder in Reichweite der gegnerischen Artilleriegeschosse eingebaut wurden. Noch vor dem Ersteinsatz waren auch in Ypern Gasflaschen durch Granattreffer und Gewehrschüsse explodiert und hatten zu schweren Vergiftungen, teilweise mit Todesfolge geführt (Deimling 1930, 202). Einem Bericht des Adjutanten im Stab der Gastruppen Otto Lummitzsch zufolge traf im März 1915 ein Artillerievolltreffer eine Gasbatterie in vorderster Stellung und zerriss mehrere Kampfgasflaschen. Etwa zwanzig Soldaten der Infanterie wurden dadurch getötet (Lummitzsch 1955, 5). Wenn bei einem Fronteinsatz der Wind drehte, konnten die Giftgaswolken jederzeit in Richtung der eigenen Schützengräben treiben. Bei Angriffen gegen den Feind mussten die Truppen durch Gelände vorrücken, das noch durch Giftgas kontaminiert war.

Am 22. April 1915 um 17 Uhr Ortszeit öffneten Einheiten des Pionierregiments Nr. 35 unter dem Kommando von Oberst Max Peterson an der Front bei Ypern 1.600 große Gaszylinder mit 40 kg und 4.130 kleinere Flaschen mit 20 kg Chlorgas (Hanslian 1934, 14, 1937, 87; Trumpener 1975, 476–480; Haber 1986, 30–34; Groehler 1989, 29–39; Stoltzenberg 1994, 248–251; Martinetz 1996b, 23–26; Lepick 1998, 77–88). Zugleich wurden an den Flanken 15-cm T-Granaten mit dem Reizstoff Xylylbromid abgeschossen (Martinetz 1996b, 23). Wegen ungünstiger Wetter- und Windvorhersagen hatte der Angriff mehrfach verschoben werden müssen. Erst am 22. April waren die Windverhältnisse günstig genug, um mit dem sogenannten Blasverfahren auf einem sechs Kilometer breiten Frontabschnitt über 145 Tonnen Chlorgas in Richtung der gegnerischen Schützengräben entweichen zu lassen. Obwohl die britischen Nachrichtendienste durch den nach Kriegsende wegen Landesverrates verurteilten Deserteur August Jäger (Groehler 1989, 17–21) sowie Funde von Gaszylindern deutliche Hinweise auf den bevorstehenden Giftgasangriff besaßen, hatten die alliierten Kommandostäbe die Dimension der deutschen Gaskriegsvorbereitungen nicht erkannt und demzufolge keinerlei Schutzmaßnahmen ergriffen. Der Angriff traf die Einheiten der französischen 87. Territorrialdivision und der 45. französisch-algerische Kolonialdivision, unerwartet und unvorbereitet. Dies galt auch für den weniger stark getroffenen englischen Frontabschnitt ab Poelcappelle mit einer kanadischen Division, der 27. und 28. sowie der 5. britischen Division (Mordacq 1933, 22).

Abb. 2: Karte: Frontverlauf vor und nach dem Giftgasangriff bei Ypern am 22. April 1915. (Quelle: Henrici 1931, 565)

Abb. 2: Karte: Frontverlauf vor und nach dem Giftgasangriff bei Ypern am 22. April 1915. (Quelle: Henrici 1931, 565)

Die Chlorgaswolke wurde von dem Wind entlang der Front in Richtung der alliierten Stellungen bei Langenmarck, Steentraat und Poelcappelle getragen. Der mit dem Gasangriff beauftragte Stabsoffizier Hermann Geyer berichtete hierüber 1922:

Die schwere weißgelbliche, undurchsichtige Wolke, die sich, anfangs in Mannshöhe, später etwas höher werdend, unter lautem Zischen, das durch das Austreten des Gases aus den Flaschen entstand, mit ziemlicher Geschwindigkeit heranwälzte, muß auf die an dieser Front stehenden Engländer einen furchtbar unheimlichen Eindruck gemacht haben. Der Eindruck wurde unwiderstehlich, als sich der scharfe Chlorgeruch bemerkbar machte. Schutz gab es nicht. Eine panikartige Flucht begann. (Geyer 1922, 501)

Auf alliierter Seite erhielt der kommandierende General Henri Mordecq zwanzig Minuten nach dem Beginn des Gasangriffs telefonisch Nachricht von Kommandanten des 1. Tirailleur-Regiment Villevaleix:

D’une voix haletante, entrecoupée, à peine distincte, il m'annonçait ‘qu’il était violemment attaqué, que d'immenses colonnes de fumée jaunâtre provenant des tranchées allemandes s'étendaient maintenant sur tout son front, que les tirailleurs commençaient à évacuer les tranchées et à battre en retraite; beaucoup tombaient asphyxiés’. (Mordacq 1933, 62)

General Mordacq führte in seinem Bericht aus, er habe im ersten Moment gedacht, der Kommandeur habe seinen Verstand verloren und einen Nervenzusammenbruch erlitten. Nach dem Eintreffen weiterer Meldungen, erkundete er persönlich den Frontabschnitt und ritt in Richtung des Dorfes Bosinghe. Auf dem Weg dorthin bot sich ihm ein erschütterndes Bild:

Dès les abords du village, le spectacle était plus que lamentable, il était tragique. Partout des fuyards: territoriaux, ‘joyeux’, tirailleurs, zouaves, artilleurs sans arme, hagards, la capote enlevée ou largement ouverte, la cravate arrachée, courant comme des fous, allant au hasard, demandant de l’eau à grands cris, crachant du sang, quelques-uns même roulant à terre en faisant des efforts déspérés pour respirer. [...] Tout le long du canal, même tableau: sans tenir compte des balles et des projectiles, une foule de malheureux affolés sur les deux rives, étaient venus demander à l’eau bienfaisante un peu de soulagement à leurs horribles souffrances. (Mordacq 1933, 65 f.)

Die genaue Zahl der Gasverletzten und -toten bei Ypern lässt sich schwer ermitteln. Die zeitgenössischen Primärquellen sind fragmentarisch, widersprechen einander und beziffern die Opferzahlen häufig für unterschiedlich lange Zeiträume, so dass präzise Aussagen, wie viele Soldaten und Zivilisten direkt infolge des ersten Giftgaseinsatzes starben, kaum möglich sind. Dies gilt auch für die Gesamtzahl aller Giftgasopfer des Ersten Weltkrieges (vgl. Gradmann 1996, 127–131). Nach Mitteilungen der Alliierten waren in Folge des Einsatzes bei Ypern 15.000 Männer verwundet worden und 5.000 gestorben. Diese Angaben gelten jedoch als zu hoch (Hanslian 1934, 63–64; Robinson 1971, 30–31; Haber 1986, 39). Victor Lefebure sprach in seinem Buch The Riddle of the Rhine (1921, 52) von 5.000 Opfern. Dem Sanitätsbericht über das deutsche Heer aus dem Jahre 1934 zufolge sind von den 200 Gasverletzten, die in deutschen Lazaretten behandelt worden waren, zwölf Soldaten, also weniger als zehn Prozent gestorben (Trumpener 1975, 460). Die kanadischen Verluste vom 24. bis 26. April 1915 betrugen laut Nicholson (1962, 83) schätzungsweise 1.500. In der neueren Forschung wird von 800 bis 1.400 Toten und 2.000 bis 3.000 Gasverletzten bei dem Angriff auf Ypern ausgegangen (Lepick 1998, 81).

Trotz der überstürzten Rückzugsoperationen und Geländegewinne der deutschen Truppen blieb der erhoffte strategische Durchbruch auf breiter Front aus. Die Oberste Heeresleitung hatte ihr Ziel, durch die Desorientierung des Gegners nach dem Gitgaseinsatz wieder Bewegung in den festgefahrenen Stellungskrieg zu bringen, verfehlt. Infolge unzureichender Reserveeinheiten blieb die Offensive lokal begrenzt und der deutsche Vormarsch erneut stecken (Müller 2000, 98).

Haber wurde nach dem Giftgaseinsatz in Ypern zum Hauptmann befördert und feierte in Berlin seine „Beförderung“. Zwischen ihm und seiner Frau Clara (geb. Immerwahr), einer promovierten Chemikerin, kam es am 1. Mai 1915 zu einem Streit. In derselben Nacht erschoss sich Clara Haber mit der Dienstwaffe ihres Mannes. Ihr Suizid wurde in der biographischen Rezeption auch als Fanal gegen den chemischen Krieg und den Missbrauch der Wissenschaften interpretiert (Leitner 1993). Diese Deutung ist in der historischen Forschung jedoch umstritten, da einige Quellen für eine komplexere Ursachenkonstellation sprechen. So müssen neben einer depressiven Vorerkrankung Clara Habers, Ehekonflikte und eine außereheliche Beziehung Fritz Habers zu seiner späteren Frau Charlotte Nathan als weitere Beweggründe für den Suizid in Betracht gezogen werden (Fischer 1993; Ebbinghaus 1993; Szöllösi-Janze 1998, 393–399). Am darauffolgenden Abend kehrte Haber an die Front zurück und ließ seinen dreizehnjährigen Sohn Hermann, der seine tödlich verletzte Mutter aufgefunden hatte, in Berlin zurück.

Beim ersten großen Giftgaseinsatz in Ypern waren die Schutzmaßnahmen für die deutschen Fronteinheiten improvisiert und unzureichend. An die Soldaten waren Putzwolllappen verteilt worden, die mit Natriumthiosulfat (Na2S2O3) getränkt worden waren. Dessen chlorbindende Wirkung war zu gering und bot letztlich keinen ausreichenden Schutz gegen Chlorgas (Szöllösi-Janze 1998, 339 f.; Stoltzenberg 1994, 283 f.). Zwar hatte Haber im März 1915, wenige Wochen vor dem Angriff in Ypern, im Bergbau verwendete Sauerstoff-Schutzgeräte, die so genannten „Selbstretter Dräger-Tübben“, umrüsten lassen. Die ab Juni in niedriger Stückzahl im Feld erprobten Geräte waren jedoch für längere und physisch anstrengende Militäreinsätze ungeeignet (Stoltzenberg 1994, 285 f.; Haber 1915). Erst Ende April erteilte die Operationsabteilung der Obersten Heeresleitung Haber den Auftrag, eine Heeresgasmaske zu entwickeln, die zwei Monate später in Serienproduktion ging (Schmaltz 2014, 198; Martinetz 1996b, 92).

Der deutsche Giftgasangriff von Ypern löste international heftige Reaktionen aus. Auf Seiten der Entente wurde er als barbarischer Akt und Verletzung der Haager Konvention gewertet. Auf der internationalen Haager Konferenz von 1899 und der Nachfolgekonferenz im Jahre 1907 waren 26 Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Russland und Japan übereingekommen, „die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen“ (Art. 23a) sowie den „Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind unnötig Leiden zu verursachen“ (Art. 23e) zu verbieten (Haager Landkriegsordnung 1907). Die Definition, welche Waffen unter die Konvention fielen, blieb hingegen umstritten und wurde interessengeleitet interpretiert. Nach dem Giftgasangriff bei Ypern wurden auch in den noch neutralen USA in der New York Tribune Stimmen laut, die den Einsatz erstickender Gase als einen klaren Verstoß gegen die Haager Konvention anprangerten. Und im britischen House of Lords mahnte Lord Kitchener die Einhaltung der Konvention an und kritisierte den Giftgaseinsatz als Verstoß gegen das Kriegsrecht (Coleman 2005, 21 f.). Die deutsche Seite wies den Vorwurf zurück, Kriegs- und Völkerrecht gebrochen zu haben und warf der französische Armee vor, sie habe ihrerseits bereits vor dem deutschen Gasangriff in Ypern durch den Einsatz von Geschossen mit Reizstoffen gegen die Haager Konvention verstoßen (Kriege 1927). Auf französischer Seite seien, so der Vorwurf Habers nach Ende des Ersten Weltkriegs, ab Mitte März 1915 30.000 mit Tränengas Bromessigsäureetylester gefüllte 26mm-Gas-Gewehrgranaten und auch mit diesem Reizstoff gefüllte Handgranaten in den Argonnen zum Einsatz gekommen. Dafür liegen jedoch bislang nur Hinweise in Form von Bedienungsvorschriften, aber keine unwiderlegbaren Beweise vor (Haber 1986, 24).

Haber und seine Mitarbeiter am KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie trugen auch nach dem Angriff in Ypern entscheidend zur weiteren Eskalation der chemischen Kriegführung bei, indem sie noch aggressivere Kampfstoffe wie das Lungengift Phosgen und den Hautkampfstoff Senfgas (Lost) entwickelten. Der Chlorgaseinsatz bei Ypern hatte einen internationalen Rüstungswettlauf ausgelöst, bei dem, angetrieben nicht zuletzt durch die Chemiewaffenforschung, immer wieder neue, dem Gegner überlegene chemische Massenvernichtungswaffen entwickelt und eingesetzt wurden. (Haber 1986, 41–82; Szöllösi-Janze 1998, 316–317; Martinetz 1996a, 68–91). Unter den zahlreichen neuen chemischen Kampfstoffen, die im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden, sticht einer hervor: Das euphemistisch als „König der Kampfstoffe“ titulierte Dichlordiäthylsulfid, welches am 12. und 13. Juli 1917 erstmals östlich von Ypern mit 50.000 Granaten verschossen wurde (Haber 1986, 192). Dieser sesshafte Hautkampfstoff (Gelbkreuz), fünfzig mal giftiger als Chlor, wurde in Deutschland nach seinen Entdeckern, den Chemikern Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf als LoSt bezeichnet. In Frankreich und in Russland wurde er nach dem Ort seines Ersteinsatzes Yperit benannt, während sich im englischen Sprachgebrauch wegen des senfartigen Geruches die Bezeichnung Mustard(gas) einbürgerte (Groehler 1989, 56; Szöllösi-Janze 1998, 349). Zu den Symptomen einer lebensgefährlichen Senfgasvergiftung gehören Brech-, Husten und Juckreiz, Augenentzündungen bis zur Erblindung und eine durch großflächige, nur langsam abheilende Verbrennungen verursachte typische Blasenbildung auf der Haut (Bey und Walter 2003). Als die Alliierten das Senfgas nach drei Tagen chemisch identifizierten und seine verheerenden Wirkungen erkannten, waren bereits 2.229 britische und 348 französische Soldaten als Gasverletzte registriert worden, von denen 87 einen qualvollen Tod starben (Martinetz 1996b, 80).

Ohne die Produktionskapazitäten der chemischen Industrie Deutschlands, aber auch ohne die aktive Beteiligung der Wissenschaft hätte der erste Einsatz von Massenvernichtungsmitteln nicht stattfinden können. In dem Pionierregiment Nr. 35, das den Gaseinsatz in Ypern und weitere Angriffe praktisch vorbereitete, waren neben Haber zahlreiche Naturwissenschaftler vertreten, darunter die Physiker James Franck, Gustav Hertz und der Chemiker Otto Hahn (vgl. Hahn 1955). Die Expertise der Chemiker, Physiker, Meteorologen und Ingenieure zur Ermittlung günstiger Wetterbedingungen und beim Umgang mit den gefährlichen chemischen Waffen wurde von Seiten des Militärs dringend benötigt, weil die Offiziere des Heeres über keine entsprechende Ausbildung verfügten. In allen kriegführenden Staaten erzeugte der Einsatz chemischer Waffen akuten Handlungsdruck, weil sie den Gasschutz ihrer Truppen und die industriellen Produktionskapazitäten auf neue Kampfstoffarten einstellen mussten. Der hierdurch angetriebene Rüstungswettlauf konfigurierte im Verlauf des Ersten Weltkriegs die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Militär und chemischer Industrie neu. Die chemische Kriegführung gehörte dabei neben der Munitionsproduktion, der Entwicklung der Flugzeuge als neuem Waffensystem und der U-Bootwaffe zu den wichtigsten Triebkräften.

Erst der Rüstungswettlauf, den der Giftgaskrieg auslöste, zwang die militärische Führung des Kaiserreichs dazu, die neue Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisse als entscheidenden Faktor für den Kriegsverlauf anzuerkennen. 1918 bilanzierte Fritz Haber die neuartige Beziehung zwischen Wissenschaft und Militär retrospektiv in einem Vortrag vor der Hauptversammlung der Deutschen Bunsengesellschaft:

Dieses Verhältnis war vor dem Kriege ein unvollkommenes. Der General wohnte gewissermaßen in der Beletage und grüßte zwar den Gelehrten, der in demselben Haus wohnte, aber ein innerer Zusammenhang bestand nicht. Zur Vermittlung bediente er sich des im gleichen Hause wohnenden Industriellen. (Haber 1918, 197)

Haber vertrat auch nach Kriegsende noch die Auffassung, Deutschland habe den Gaskrieg nicht begonnen und dieser stelle keine Verletzung des Völkerrechtes dar – und er leugnete die Inhumanität chemischer Massenvernichtungsmittel – trotz der grausamen Leiden der Giftgasopfer (Szöllösi-Janze 1998, 450).

Doch es gab auch andere Stimmen unter Naturwissenschaftlern, die bereits während des Ersten Weltkriegs dazu aufriefen, die Wissenschaft nicht in den Dienst des Krieges zu stellen und keinen Beitrag zur Entwicklung von chemischen Massenvernichtungsmitteln zu leisten. So engagierte sich der in der neutralen Schweiz in Basel lehrende Chemiker und spätere Nobelpreisträger Hermann Staudinger seit 1917 gegen die chemische Kriegführung. In einem von ihm initiierten Aufruf gegen den Einsatz von chemischen Kampfstoffen wurde angeprangert, dass

die Fortschritte der Wissenschaft, der Ballistik und der Chemie nur dazu geführt haben, die Leiden zu vergrößern und vor allem auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen, so daß der Krieg nur noch ein Werk der allgemeinen und unerbittlichen Zerstörung ist. [...] Wir erheben heute unsere Stimme gegen die barbarische Neuerung, die die Wissenschaft zu vervollkommnen sich anschickt. Das bedeutet, sie noch mörderischer und von noch durchtriebener Grausamkeit macht. Es handelt sich um die Verwendung erstickender und giftiger Gase. (Appel 1918, 185; zit. n. Wollschläger 1990, 77)

Ebenfalls in der Schweiz engagierte sich die Pazifistin und Chemikern Gertud Woker, die von 1911 bis 1951 das Laboratorium für physikalisch-chemische Biologie an der Universität Bern leitete, für eine Ächtung chemischer Waffen und für deren weltweite Abrüstung. Sie war 1915 maßgeblich an der Gründung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit beteiligt, die zur Abrüstung und Völkerverständigung aufrief und den Einsatz chemischer Waffen scharf verurteilte. In ihren Büchern Der kommende Giftgaskrieg (1927) und Der kommende Giftgas- und Brandkrieg (1932) warnte sie eindringlich vor einem „Missbrauch der Wissenschaft“ für den Krieg und den verheerenden Auswirkungen einer künftig möglichen aerochemischen Kriegführung. Das ermutigende Engagement von Staudinger und Woker kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Mehrheit der Naturwissenschaftler im Ersten Weltkrieg nicht gegen den Krieg und für eine Ächtung chemischer Waffen einsetzte.

Literatur

Appel (1918). Appel contre l'emploi des gaz vénéneux. Bulletin international des Sociétés de Croix Rouge XLIX:185–187.

Bey, Tareg und Frank G. Walter (2003). Senfgas, Stickstofflost, Lewisit und Phosgenoxim. Hautschädigende Militärkampfstoffe und deren Bedeutung für Rettungsdienste. Notfall & Rettungsmedizin 6(5):327–336.

Coleman, Kim (2005). A History of Chemical Warfare. Houndmills: Palgrave Macmillian.

Deimling, Berthold von (1930). Aus der alten und der neuen Zeit. Lebenserinnerungen. Berlin: Ullstein.

Ebbinghaus, Angelika (1993). Rezension zur Gerit von Leitner: Der Fall Clara Immerwahr: Leben für eine humane Wissenschaft. 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4:125–131.

Fischer, Ernst Peter (1993). Frau Professor Dr. Fritz. Eine Biografie der Chemikerin Clara Haber verfehlt leider Leben und Werk. die tageszeitung, 21.6.1993.

Geyer, Hermann (1922). Der Gaskrieg. In: Der große Krieg 1914–1918. Vierter Band: Der Seekrieg. Der Krieg um die Kolonien. Die Kampfhandlungen in der Türkei. Der Gaskrieg. Der Luftkrieg. Hrsg. von Max Schwarte. Leipzig: Barth, 484–528.

Gradmann, Christoph (1996). ‘Vornehmlich beängstigend’ – Medizin, Gesundheit und chemische Kriegführung im deutschen Heer 1914–1918. In: Die Medizin und der Erste Weltkrieg. Hrsg. von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. Pfaffenweiler: Centaurus Verlags-Gesellschaft, 131–154.

Groehler, Olaf (1989). Der lautlose Tod. Einsatz und Entwicklung deutscher Giftgase von 1914 bis 1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Haager Landkriegsordnung (1907). Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907. Reichsgesetzblatt II (1910), Bl. 101–151.

Haber, Fritz (1915). Fritz Haber an Drägerwerk Köln, 25.3.1915. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (AMPG), Abt. Va, Rep. 5, Nr. 512.

— (1918). Das Verhältnis zwischen Heereswesen und exakten Naturwissenschaften. Chemiker-Zeitung 42(49):197.

Haber, Ludwig F. (1986). The Poisonous Cloud. Chemical Warfare in the First World War. Oxford: Clarendon Press.

Hahn, Otto (1955). Erinnerungen an Fritz Haber, 12.1.1955. AMPG, Va Abt., Rep.5, Nr. 1453.

Hanslian, Rudolf (1934). Der deutsche Gasangriff bei Ypern am 22. April 1915. Eine kriegsgeschichtliche Studie. Berlin: Verlag Gasschutz und Luftschutz.

— (1937). Der chemische Krieg. 3. völlig neubearb. Aufl. Berlin: E.S. Mittler & Sohn.

Henrici, Paul, Hrsg. (1931). Das Ehrenbuch der deutschen Pioniere. Berlin: Verlag Tradition Wilhelm Kolk. Trotz intensiver Bemühungen konnten die Urheber und Rechteinhaber der Abbildungen aus diesem Buch nicht ermittelt werden.

Kriege, Geheimrat Dr. (1927). Die völkerrechtliche Beurteilung des Gaskrieges im Weltkriege. In: Der Gaskrieg. Der Luftkrieg. Der Unterseebootkrieg. Der Wirtschaftskrieg. Hrsg. von Johannes Bell, Walther Schücking, Deutschland Parlamentarischer Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Weltkriegs Unterausschuss und Deutschland Reichstag. Berlin: Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, 28–42.

Lefebure, Victor (1921). The Riddle of the Rhine: Chemical Strategy in Peace and War. New York: The Chemical Foundation.

Leitner, Gerit von (1993). Der Fall Clara Immerwahr: Leben für eine humane Wissenschaft. München: Beck.

Lepick, Oliver (1998). La grande guerre chimique: 1914–1918. Paris: Presses Universitaires de France.

Lummitzsch, Otto (1955). Meine Erinnerungen an Geheimrat Prof. Dr. Haber, Juli/August 1955. Bonn, AMPG, Va Abt., Rep. 5, Nr. 534, Bl. 2–14.

Martinetz, Dieter (1996a). Der Gaskrieg 1914–1918. Entwicklung, Herstellung und Einsatz chemischer Kampfstoffe. Bonn: Bernard und Graefe.

— (1996b). Zur Entwicklung und zum Einsatz von Schwefel-Lost (Gelbkreuz) als bedeutendstem Kampfstoff im Ersten Weltkrieg. Militärgeschichtliche Mitteilungen 55(2):355–381.

Mordacq, Henri (1933). Le Drame de l'Yser. La surprise des gaz (avril 1915). Paris: Éd. des Portiques.

Müller, Rolf-Dieter (2000). Total War as a Result of New Weapons? The Use of Chemical Agents in World War I. In: Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918. Hrsg. von Roger Chickering und Stig Förster. Cambridge: Cambridge University Press, 95–111.

Nicholson, Gerald W. L. (1962). Canadian Expeditionary Force, 1914–1919. Official History of the Canadian Army in the First World War. Ottawa: Duhamel, XIV, 621 S.

Robinson, Julian Perry (1971). The Rise of Chemical and Biological Warfare. A Study of the Historical, Technical, Military, Legal and Political Aspects of CBW, and Possible Disarmament Measures. 1. The Problem of Chemical and Biological Warfare. A study of the historical, technical, military, legal and political aspects of CBW, and possible disarments measures. Stockholm: Almquist & Wiksel.

Schmaltz, Florian (2014). Chemie als Waffe: Fritz Haber und Richard Willstätter im Ersten Weltkrieg. In: Krieg! Juden zwischen den Fronten, 1914–1918. Hrsg. von Julia Köhne und Ulrike Heikaus. München: Hentrich & Hentrich, 185–215.

Stoltzenberg, Dietrich (1994). Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude. Weinheim: VCH Wiley.

Szöllösi-Janze, Margit (1998). Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie. München: Verlag C.H. Beck.

Trumpener, Ulrich (1975). The Road to Ypres: The Beginning of Gas Warfare in World War I. Journal of Modern History 47(3):460–480.

Woker, Gertrud (1927). Der kommende Giftgaskrieg. Leipzig: Ernst Oldenbourg.

— (1932). Der kommende Gift- und Brandkrieg und seine Auswirkungen gegenüber der Zivilbevölkerung. Leipzig: Ernst Oldenbourg.

Wollschläger, Peter (1990). Kampfstofforschung und ärztliches Gewissen. Der Beitrag der Medizin zur chemischen Kriegführung 1914–1933. Thesis.