D Diktaturen

Edgar Wolfrum

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DOI

10.34663/9783945561126-05

Citation

Wolfrum, Edgar (2016). D Diktaturen. In: Wissen Macht Geschlecht: Ein ABC der transnationalen Zeitgeschichte. Berlin: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften.

Wer mit Carola Sachse zusammenarbeiten darf, sollte sich auf Fragen gefasst machen. Niemand fragt so ausdauernd wie sie. Jedenfalls kam es mir so vor, als wir 2004 zusammen ein Graduiertenkolleg in Wien und Heidelberg einrichteten, das von der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert wurde. Der Grundgedanke, der Carola und mich verband, lautete: In der Überwindung von Diktaturen und im Aufbau von Zivilgesellschaften haben viele europäische Staaten eine gemeinsame Vergangenheit – allen nationalen Unterschieden zum Trotz. Sich dieser gemeinsamen Erfahrung bewusst zu werden, sei, so meinten wir, für das Zusammenwachsen Europas von herausragender Bedeutung. Das Graduiertenkolleg könnte hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, indem es auf die Erforschung der „Pfadabhängigkeit“, also der Analogien und Unterschiede dieser Transformationsprozesse im West-Ost-Vergleich zielte.

Lange dachten wir über den Namen nach. Wir fanden: „Überwindung von Diktaturen und Aufbau von Zivilgesellschaften. Diktaturerfahrungen im Ost-West-Vergleich“ klinge gut und nicht zu kompliziert. Dann überlegten wir uns, welchen Fragestellungen wir mit den Stipendiatinnen nachgehen wollten. Drei Fragebündel fanden wir besonders wichtig. Die erste Gruppe der Fragen umkreiste die „Erfahrungsdeutung“. Darunter fanden sich ganz verschiedene Probleme. Welche Folgen haben Diktaturerfahrungen für die Politik nach der Diktatur? Gab es eine Alternative beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie: Fand ein Bruch statt oder gab es reformerische Transformationsprozesse? Inwieweit waren marginalisierte oder verfolgte Gruppen an der Überwindung von Diktaturen beteiligt? Wie konstituierten sich die politischen Eliten (nach class, race, gender, sex, generation) in den Nachdiktaturstaaten? Aus welchem Geist heraus entstanden die Verfassungen, Institutionen und neuen Ordnungen? Welche Vorstellungen herrschten von der Gleichheit der Geschlechter, von der Privatsphäre als Raum der Freiheit von staatlichen Eingriffen, vom Status der Familie und der Rolle von Männern und Frauen darin? Gab es Abrechnungen mit den Tätern der Diktatur, Restitution und Wiedergutmachung für die Opfer, Amnesie und Amnestie? Wie wurden geschlechtsspezifische Verletzungen der Menschenrechte geahndet? Welches waren die neuen Prinzipien der Innen-, Außen- und Sicherheits- und Menschenrechtspolitik? Wie wandelte sich die Alltagskultur nach der Überwindung von Diktaturen? Unterschieden sich die Diktaturdeutungen, abhängig von Geschlecht, Generation, sozialem Status, Bildung, Konfession? Die zweite Gruppe der Fragen widmete sich dem „Erfahrungswandel“. Damit war Folgendes gemeint: Kam es und wenn ja, mit welchen Folgen, bereits während der Diktatur zu Brüchen und Veränderungen? Gab es Unruhen, Widerstand, Opposition? Wie sah ihre Zusammensetzung aus? Erneuerte sich die Zivilgesellschaft bereits unterhalb der Kruste der sklerotischen Institutionen in der Spätphase von Diktaturen? Wie gestaltete sich die Sprache der Dissidenz? Gab es eine Verwendung oder Vermeidung von Geschlechtermetaphern, eine Rekonstruktion, Überwindung oder Neudefinition von Geschlechterrollen? Wer waren die Akteure und Akteurinnen, wo fand sich die reformerische Opposition, wer gehörte ihr an, an welche Vorbilder wurde angeknüpft? Die dritte Gruppe der Fragen thematisierte schließlich die „Weitergabe von Erfahrung“: Wie wird nach der Überwindung von Diktaturen deren Vergangenheit erinnert? Welche Geschichtsbilder im Ost-West-Vergleich tauchten nach den Diktaturen auf, welche Konstruktionen von National- und Europageschichte entstanden? Wurde Schuld verdrängt oder aufgearbeitet, wie stand es um Wahrheit und Gerechtigkeit, Anerkennung von Schuld, Verhinderung neuer Menschenrechtsverletzungen, Konsolidierung demokratischer Verhältnisse? Gab es einen „Schweigepakt“ und „blinde Flecken“? Existierten Unterschiede im Geschichtsbewusstsein, abhängig von Geschlecht, Generation, sozialem Status, Bildung, Konfession, entstanden also gespaltene Erinnerungskulturen? Kam es zu einer Annäherung europäischer Gesellschaften und des „gelebten Europa“?

Das war schon eine ganze Menge, was uns hier interessierte. Wir hatten aber auch hervorragende Stipendiatinnen, fünf aus über 80 Bewerbungen. Sie befassten sich mit ganz verschiedenen Ländern: Mit den beiden Teilen Deutschlands, mit Österreich, Ungarn, Lettland, der Tschechoslowakei und Rumänien. Die Stipendiatinnen organisierten internationale Tagungen in Wien und in Heidelberg. „Diktaturüberwindung in Europa: Neue nationale und transnationale Perspektiven“ hieß zum Beispiel eine Veranstaltung 2007 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Eine weitere Tagung veranstalteten wir gemeinsam mit der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur am Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg. Sie trug den Titel „Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit“. Ein Jahr zuvor, 2006, hatten wir uns in Wien getroffen, um über das Thema „(Re)Formulierung nationaler Selbstbilder in postdiktatorischen Gesellschaften in Europa“ zu diskutieren.

Die allererste Tagung des Graduiertenkollegs hatte Anfang Mai 2005 im Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien stattgefunden. Im Zentrum des erinnerungskulturell ausgerichteten Treffens standen dabei die Gedenkfeiern im Konzentrationslager Mauthausen und Gusen anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung. Gerhard Botz, Universität Wien, referierte zu „Lagergeschichte und Einordnung des Konzentrationslagers Mauthausen ins nationalsozialistische Lagersystem“, Bertrand Perz, ebenfalls Wien, zu „Konzeptionen der Gedenkstätte Mauthausen von 1947 bis zur Gegenwart“. Vorbereitend auf die Exkursion zu den Konzentrationslagern Mauthausen und Gusen sprach Alexander Prenninger, Universität Salzburg, über „Befreiungsrituale in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“ unter dem Aspekt des KZ Mauthausen als einem europäischen Gedächtnisort. Prenninger führte die Gruppe anschließend durch die Gedenkstätten. Tausende Menschen aus europäischen Ländern und den USA hatten sich eingefunden und gedachten in strömendem Regen und bitterer Kälte an den jeweiligen Nationendenkmälern. Nach der Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung in Gusen am 7. Mai und in Mauthausen am 8. Mai diskutierten die Stipendiatinnen ihre Beobachtungen – sie hatten ein Feldexperiment zur Erinnerungskultur hinter sich.

Unsere Schriftenreihe zum Kolleg, die im Wallstein-Verlag erschien, nannten Carola und ich „Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert“. Es ist eine stattliche Anzahl von Monographien und Sammelbänden erschienen, allesamt auch optisch schöne Bücher, die ein breites Echo gefunden haben. Einige Dissertationen, die hier veröffentlicht wurden, haben Preise gewonnen. Carola und ich waren zufrieden, konnten es sein. Im Abschlussbericht an die Stiftung formulierten wir: „Das Graduiertenkolleg ‚Überwindung von Diktaturen und Aufbau von Zivilgesellschaften‘ hat sich seit seinem Bestehen sehr gut etablieren können. Den fünf Kollegiatinnen ist ein außerordentliches Engagement für das Kolleg zu bescheinigen: So ist es in den vergangenen Jahren gelungen, fortlaufend ein gleichzeitig wissenschaftlich anspruchsvolles und gewinnbringendes wie vielseitiges Begleitprogramm zu organisieren.“ Ja, so war es: Die vier Jahre, die wir insgesamt mit dem Graduiertenkolleg verbrachten, waren für mich beispiellos intensiv. Eine schöne Zeit. Und die vielen und immer neuen Fragen von Carola, die uns voranbrachten, klingen mir heute noch im Ohr.